ERÖFFNUNGSKONZERT

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VERRÜCKT mag an Musik und Kunst generell ja Vieles sein – und genau das ist es auch, was das Publikum, egal welcher Epoche, an seinen Künstlern und deren output liebt: überrascht, mitgerissen, wenigstens für kurze Momente Teil einer Sphäre zu werden, die außerhalb des Alltagslebens liegt und zu der Kunstschaffende, wie wir glauben, eine unmittelbarere Beziehung haben als wir selbst – doch worauf wir uns meist unbewußt verlassen, ist die Vernunft, die bei aller Kreativität im formalen Detail einer ernstzunehmenden Komposition steckt, gerade wenn das Werk aus einer in der Rückschau so klar definierten musikalischen Epoche wie die der Klassik stammt. Mozart und Haydn, die beiden Giganten dieser Epoche, beherrschten neben aller Genialität eben auch ihr Handwerk souverän: ihre Musik, Feuerwerk für die Ohren, gründet daher ganz solide auf dem meisterlich angewendeten Regelwerk der abendländischen Harmonielehre und des Tonsatzes, wie es sich über die Jahrhunderte hinweg entwickelt hat. Ihre Grenzgänge können gerade heutige Hörer also begeistern, aber strukturell nicht zu sehr überraschen – oder etwa doch?

Haydn und Mozart verband trotz ihres Altersunterschieds eine Freundschaft. Ihre Beziehung sowie ihre jeweilige kompositorische Karriere war in der Rückschau stets Gegenstand musikgeschichtlicher Einordnungsversuche. Die Tatsache, dass ihr Verhältnis vergleichsweise spärlich durch echte primäre Quellen wie Briefe und Aufzeichnungen aus erster Hand, sondern vielmehr durch die Überlieferung von Aussprüchen und Anekdoten dokumentiert ist, eröffnet allerdings auch Gelegenheit für spekulative Annäherungen. Schlagworte umreißen bis heute das Bild ihrer Beziehung, simplifizieren diese aber auch: War „Papa Haydn“ nicht mehr als ein väterlicher, verlässlicher Mentor für das närrische „Wunderkind Poldi“? Verhalf der etablierte Komponist dem aufstrebenden jungen Tondichter zu dem Rang, den er bis heute hat? War der um 24 Jahre ältere, auf stabile Verhältnisse bedachte, fromme, über Jahrzehnte hinweg hoch produktive und versierte Haydn der musikalische Vorreiter für die ungestüme, unstete und kometenhaft verglühende Überbegabung Mozart? Die Musikgeschichte tat (und tut) sich genau wie die öffentliche Rezeption zuweilen schwer damit, nicht in Schubladen zu pressen oder in aufeinander aufbauenden Stufen zu denken, an deren Ende erst der Superlativ stehen darf.

Ab wann sich Haydn und Mozart tatsächlich persönlich kannten, bleibt ungewiss. Es wird aber angenommen, dass die beiden frühestens Ende der 1770er, eher noch Anfang der 1780er Jahre miteinander in Berührung kamen. Die Erinnerung von Zeitgenossen verbürgt zumindest, dass beide in dieser Periode zusammen Kammermusik machten. Zu dieser Zeit war Haydn wohlgemerkt nicht in Wien ansässig, sondern bereits fast eine Dekade als Kapellmeister des Grafen Esterházy angestellt, bei dem er insgesamt fast 30 Jahre bleiben sollte. Und der bis heute gerade im Blick auf Haydns Relation zu Mozart so gern aufgegriffene Spitzname „Papa Haydn“ war übrigens keinesfalls nur Mozart als Privileg vorbehalten, sondern stammt eigentlich aus dem Umkreis seiner dortigen Musiker, die ihn – aus Respekt wie auch Zuneigung – als erste so titulierten.

Ob Mozart, der nach den reiseintensiven ersten Jahren seiner stark von Vater Leopold kontrollierten frühen Laufbahn und nach der endgültigen Entlassung aus den einengenden Salzburger Diensten 1781 nach Wien zog und durchaus bereits einen Bekanntheitsgrad als Komponist aufweisen konnte, in Haydn tatsächlich einen echten „Mentor“ suchte, sei dahingestellt. Das letzte Jahrzehnt seines Lebens blieb Mozart jedenfalls freelancer, der sich von Auftrag zu Auftrag hangelte und dazu eine ungeheure Menge grandioser Werke produzierte, u. a. die Opern Le nozze di Figaro, Don Giovanni, Cosi fan tutte, Die Zauberflöte, die c-Moll-Messe oder die Jupitersymphonie. Indizien wie etwa die Tatsache, dass Haydn ab 1785 Mitglied derselben Freimaurerloge wie Mozart war, lassen weitere Überschneidungen der Lebenskreise zumindest vermuten.

Wie oft die Beiden tatsächlich persönlichen Kontakt hatten, wissen wir allerdings nicht. Die wenigen einigermaßen direkt überlieferten Zeugnisse zeigen aber neben menschlicher vor allem auch eine große kollegiale Wertschätzung. Mozart setzte sich nachweislich mit Haydns Musik auseinander, besaß, wie aus einem Brief an Vater Leopold vom 15. Mai 1784 hervorgeht, etwa „seine Neuesten 3 Sinfonien“. Dass Haydns Streichquartette schon die frühen Quartettkompositionen des jungen Mozarts lange vor jeder persönlichen Bekanntschaft beeinflussten, ist Gegenstand musikwissenschaftlicher Analyse. 1785 widmet Mozart jedoch seine musikalisch revolutionären Quartette KV 387, 421, 428, 458, 464 und 465 ganz explizit Haydn, seinem „äußerst geschätzten Freund“ (Amico carißimo), dem er im Publikationsvorwort diese seine „sechs Kinder“ (i sei miei figli) anvertraut. (Oft kolportiert im Zusammenhang damit wird die Äußerung Mozarts, erst von Haydn habe er gelernt, wie man Quartette zu schreiben habe; auf der anderen Seite lesen wir im ebenfalls oft zitierten Brief Leopold Mozarts an Tochter Nannerl vom 16. Februar 1785, daß Haydn – offensichtlich neidlos – wiederum Mozart „vor Gott“ als den „größten Komponisten“, den er „als Person und dem Namen nach kenne“ bezeichnet hätte. Von Haydn gibt es immerhin ein paar schriftliche Bezugnahmen auf Mozart aus erster Hand, etwa wenn er, wahrscheinlich im Dezember 1787, in einem Brief an Franz Rott „die unnachahmlichen Arbeiten Mozarts“ rühmt und seine Konsternation darüber, dass Mozart noch keine Festanstellung an einem Hof offeriert worden sei, damit entschuldigt, „den Mann“ eben einfach „zu lieb“ zu haben, oder wenn er Ende 1791/Anfang 1792 seine Trauer um Mozarts Tod in Briefen an seine Freundin Marianne von Genzinger oder an Johann Michael Puchberg wenigstens in kurzen Passagen thematisiert: dies sei ein Verlust, künstlerisch wie persönlich, über den er „eine geraume Zeit ganz ausser“ sich gewesen sei.

Unermüdlich ist das Publikum jedweder Zeit darauf aus, seine Idole bei Bedarf in ein bestimmtes Licht zu (ver-)rücken, möglichst viel von „the human touch“ im Leben von Berühmtheiten auszumachen. Jeder Versuch einer Recherche der Beziehung Haydn-Mozart in der Rezeption späterer Epochen fördert darum unweigerlich auch biedermayerlich anmutende, geradezu verniedlichende Anekdoten wie die – u. a. unter dem Titel „Ein Spaß“ 1846 im bayerischen Unterhaltungsblatt Gambrinus veröffentlichte – Episode einer turbulenten (musikalischen) gemeinsamen Einkehr von „Vater Haydn“ und „Freund Mozart“ in eine Dorfwirtschaft zutage.
Interessant ist gerade in solchen Anekdoten die klare Rollenverteilung zwischen den beiden Freunden – der gemütliche, väterliche Ältere und der zu Scherzen aufgelegte Jüngere – wie auch die launige Interaktion der beiden Komponistengrößen mit Angehörigen der einfachen österreichischen Landbevölkerung. Beide, Haydn wie Mozart, so suggerieren solche Geschichten, seien menschlich wie musikalisch ihrer Herkunft verwurzelt, ja „treu“, und zudem Scherzen nicht abgeneigt gewesen.
Die in diesem Konzert erklingenden Werke laden geradezu zu einer Reflexion des Scherz-Aspekts in der Musik ein. Scherz kann durch das Spiel mit der Norm entstehen, aber nicht jede Ver-Rückung von Norm ist per se witzig. Musikalisch Scherzhaftes scheint von beiden Komponisten tatsächlich in verschiedenster Form überliefert: Haydns Symphonie mit dem Paukenschlag, die mit ihrem plötzlichen Fortissimo der Überlieferung nach einen Weckruf übermüdeter Hörer, ganz reell in jedem Falle eine in ihrer Abruptheit klangliche Überraschung präsentiert, aber auch ein ganz praktischer musikalischer Schabernack wie das unberechenbare Glockenspiel, mit dem Mozart im Oktober 1780 als ungebetener backstage-Gast einer laufenden Zauberflöten-Aufführung Papageno aus der Fassung brachte und das Publikum zu Lachstürmen hinriss (von Mozart selbst in einem Brief an seine Frau so beschrieben), sind nur zwei Beispiele, die die ganze Palette von musikalischem Scherz zwischen auskomponiertem Effekt und spontaner Improvisation umreißen. Mozarts 1787 entstandenes Sextett KV 522 erscheint im eigenhändigen Werkverzeichnis des Komponisten explizit als „Ein Musikalischer Spaß“, die scherzhafte Intention wird somit vom Urheber selbst bescheinigt – genau wie aber auch die Tatsache, dass Mozart diesen Spaß als (damit ernstzunehmendes?) opus in sein Werkverzeichnis aufnimmt. Entstehungshintergrund und Uraufführung bleiben im Dunkeln der Geschichte. Das Stück scheint in Besetzung (Streicher und Hörner) und Form weniger Kammermusik als eine Symphonie zu persiflieren und spielt in seiner ganzen kompositorischen Anlage buchstäblich alle Kalamitäten durch, zu denen oberflächliche Kenntnis der gängigen Kompositionslehre bei mangelndem Talent wie auch inadäquate Fähigkeiten der Musiker führen können: das musikalische Thema des ersten Satzes ist so extrem einfallslos, dass die (strukturell verlangte) Durchführung desselben fast unmöglich wird, formal notwendige Wiederholungen werden aber ohne Gnade zelebriert; im zweiten Satz duettieren die Hörner ihre (heroisch jedes Mal bis zum bitteren Ende gleich „falsch“ repetierte) absteigende Linie statt in (traditionell zu erwartenden) wohlklingenden Intervallen in Dissonanzen (wer mit einem transponierenden Instrument vertraut ist, wird den akustischen Eindruck erfreut als akkurate Wiedergabe typischer Lesefehler einordnen); der erste Geiger kadenziert sich im langsamen Satz buchstäblich ins Nirwana, und das schließende Rondo endet in harmonischer Komplettverwirrung, da sich die Musiker offensichtlich nicht auf eine Grundtonart einigen können. Eine solche Palette von formal brillant komponierten, aber klar wahrnehmbaren Elementen führte dazu, dass das Werk posthum Namen wie „Bauernsymphonie“ oder „Dorfsextett“ verliehen bekam – die „Handfestigkeit“, mit der musikalischer Dilettantismus hier parodiert wird, rückt das Stück in seiner Rezeption durchaus in die Nähe der oben erwähnten Anekdote, in der Mozart und Haydn mit der musikalischen Praxis von Dorfbewohnern konfrontiert werden und daran ihr Vergnügen haben.

Bei Haydns 1772 komponierter Sinfonie Nr. 45 in fis-moll, der sogenannten „Abschiedssymphonie“ hingegen wurde dem tatsächlichen Effekt des Stücks durch die Einbettung in anekdotisch nacherzählte Entstehungsszenarios erst in der Überlieferung ein (ver-rückender?) scherzhafter Kontext zugefügt; nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil die radikal mit den Konventionen brechende, rätselhafte instrumentale Ausdünnung des berühmten letzten Satzes so viele Fragen aufwirft. Ob Haydn tatsächlich seinem Arbeitgeber Esterházy damit eine vorsichtige, musikalisch verbrämte Lektion erteilen wollte (entweder damit dieser seine Musiker in die wohlverdienten Ferien entlassen oder aber besser bezahlen möge, so die beiden gängigsten Anekdoten zum Stück), sei dahingestellt. Um einen plakativen Ulk handelt es sich bei der Musik selbst allerdings mitnichten. Der Name „Abschiedssinfonie“ stammt auch nicht von Haydn selbst. Das experimentelle, klanglich wie formal hochdifferenzierte Werk bleibt auch ohne inhaltsgebendes Etikett ein Dokument der (versuchsweisen) Ver-Rückung kompositorischer Traditionen, für die oft kompromisslose Innovativität in Form und Struktur, die man eben nicht nur „Wunderkind“ Mozart, sondern gerade auch „Papa“ Haydn immer wieder bescheinigen muss.