ABSCHLUSSKONZERT

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Ein Blick auf die Vita von Johann Sebastian Bach lässt den Leser die 1730er Jahre als Zentrum der wohl stabilsten Lebensphase des großen Barockkomponisten wahrnehmen: seine Stelle als Thomaskantor in Leipzig, die Bach von 1723 bis zu seinem Tod 1750 ohne Unterbruch innehatte, scheint eine gesicherte Lebensstellung gewesen zu sein, die das frühere Ringen um eine dauerhafte, lukrative Position endlich vergessen machte. Denn in Leipzig hat Bach nun ja wohl alles: gesichertes Einkommen, ein reiches Betätigungsfeld als Direktor und Organisator der evangelischen Kirchenmusik, als musikalischer Ensembleleiter, als Lehrer, als etablierter Bürger der Stadt, dazu sein Privatleben im Kreis der vielköpfigen Familie. In dieser Position komponiert Bach den Löwenanteil der ohnehin großen Zahl seiner geistlichen Werke, meist unmittelbar für den Aufführungsgebrauch bestimmt, und hat damit offenbar auch als Tondichter einen erfüllenden Aufgabenbereich gefunden. Bach konnte es also zufrieden sein – doch genaueres Hinsehen lässt den Rückschluss zu, dass Bachs Leipziger Zeit gerade zu Beginn der 1730er nicht frei von Trübungen gewesen sein muss. Die schlimmste Tragik spielte sich dabei im Privatleben ab: In der Zeit zwischen 1726 und 1733 verlor die Familie Bach nicht weniger als sieben Kinder. Vielleicht sah sich Bach nicht zuletzt deshalb den Belastungen seines hohen Arbeitspensums zeitweise nicht ganz gewachsen, fühlte sich gar aus der Bahn geworfen – so suggerieren es zumindest Biographen. Fest steht, dass Bach sich 1730 explizitem öffentlichen Tadel für seine Arbeitsweise ausgesetzt sah, da er es vernachlässigte, Unterricht zu geben, und sich ohne weitere offizielle Abmeldung auf Reisen begab. (Tatsächlich sind aber auch aus wesentlich früheren Perioden, nämlich sowohl aus der Zeit seiner ersten Festanstellung als Kirchenmusiker in Arnstadt (1703-1707), sowie aus den Jahren seiner Weimarer Anstellung durchaus Konflikte und disziplinarische Kollisionen überliefert, die nicht ordnungsgemäße Auflösung des Dienstverhältnisses in Weimar von seiten Bachs endete sogar mit einem Gefängnisaufenthalt.

Vom Leipziger Stadtrat mit solchen Beschwerden, ja sogar mit einer drohenden Gehaltskürzung wegen seines „incorrigibel“ arbeitsunlustigen Verhaltens konfrontiert, reagierte Bach seinerseits mit einem Appell, der unter seinem Titel Kurtzer, jedoch höchstnöthiger Entwurff einer wohlbestallten Kirchen Music in die Musikgeschichte einging und in dem er zunächst recht objektiv die erschwerten Bedingungen beschrieb, unter denen er litt: Die Aufnahme von schlicht gesagt unmusikalischen Schülern an der Thomasschule sowie die Unzulänglichkeiten der zu kleinen und inzwischen überalterten Stadtkapelle würden ihn bei der Besetzung der Gottesdienst-Musiken nun einmal vor große Probleme stellen. Im zweiten Teil seines Appells jedoch wehrt sich Bach in flammender Rede gegen die Doppelmoral seiner Vorgesetzten, die makellose Aufführungen erwarteten, aber kein Geld dafür erübrigen wollten. Gerade „die neuen Arthen der Music“, die inzwischen auch an die Kirchenmusik erhöhte technische Ansprüche stellten, bräuchten in ihrer Virtuosität ernsthaftes Studium, gerade in Leipzig habe aber kein Musiker Zeit dafür, da jeder mit dem alltäglichen Überleben so beschäftigt sei. Ganz explizit – und absolut nicht höflich-diplomatisch – weist Bach auf einen Hof wie Dresden hin, an dessen Umgang mit den dort angestellten Musikern sich die Stadt ruhig ein Beispiel nehmen möge, und schliesst mit einer Kategorisierung seiner „Motetten Singer“ in drei Fähigkeitsstufen und dem trockenen Resümee, er habe somit „17 zu gebrauchende, 20 noch nicht zu gebrauchende, und 17 untüchtige“ Sänger zur Verfügung – es bleibe also dem Rat überlassen, zu reflektieren, „ob bey so bewandten Ümständten die Music könne fernerhin bestehen, oder ob derer mehrerer Verfall zu besorgen sey.“

Aus dieser Brandschrift spricht hohe Frustration. Die sichere Leipziger Stelle bot, zumindest zu diesem Zeitpunkt, also weder künstlerisch noch von der öffentlichen Anerkennung her die Befriedigung, die Bach sich zu erarbeiten gehofft hatte. Tatsächlich war er aus seiner früheren Position als Kapellmeister und Kammermusikdirektor am Hof in Köthen (1717-1723) Besseres gewohnt gewesen, nämlich gute Arbeitsbedingungen, die hohe Wertschätzung seiner Arbeitgeber (Angehörige des Fürstenhauses waren sogar Taufpaten eines seiner Söhne gewesen) und ein Stab von hochqualifizierten Musikern zu seiner Verfügung. Dass Bach dem musikalisch wie kompositorisch hohen Freiraum in seiner Köthener Stelle bei einem so „gnädigen und Music so wohl liebenden als kennenden Fürsten“ geradezu nachtrauerte und von seinem momentanen Dienst, den er als „bey weitem nicht so erklecklich als mann mir Ihn beschrieben“ bezeichnete, schwer enttäuscht war, wird aus seinem Brief an seinen Jugendfreund Georg Erdmann vom 28. Oktober 1730 deutlich: Leipzig sei nun leider „ein sehr theurer Orth“ mit einer „wunderliche(n) un der Music wenig ergebene(n) Obrigkeit“, die ihn „stetem Verdruß, Neid und Verfolgung“ aussetze. Seiner brieflichen Bitte, ihm zu einer neuen Stellung anderswo zu verhelfen, hat Erdmann offenbar nicht Folge leisten können – sonst würde Bachs Vita an entscheidender Stelle vielleicht anders verlaufen sein.

Die Aufnahme einer Tätigkeit im weltlichen Musikleben der Stadt Leipzig jedoch war für Bach in solcher Misere ein Lichtblick: 1729 bewarb er sich für die freigewordene Leitungsposition des von Telemann gegründeten Leipziger Collegium musicum, eine Art Studentenorchester von Berufsmusiker-Qualität, das sich regelmäßig wöchentlich im Zimmermannschen Kaffeehaus traf. Dass Bach am Erhalt dieser Position wirklich interessiert war (wie wir aus einem Brief an seinen Schüler Gottlob Christoph Wecker vom März 1729 erfahren), verwundert nicht: Das Zimmermannsche Kaffeehaus in Leipzig war Treffpunkt des an gehobener musikalischer Unterhaltung interessierten bürgerlichen Publikums und stellte somit als musikalische Plattform einen von den traditionellen musikalischen Zentren (Kirchenmusik- oder Hofmusikkultur) bewusst abgehobenen Sonderfall dar. Die Tätigkeit dort bescherte Bach sicher Reminiszenzen an die Köthener Verhältnisse, hatte er doch mit dem Collegium musicum einen exzellenten musikalischen Klangkörper zur Verfügung. Überdies trat Kaffeehausbesitzer Zimmermann, der die Werbewirksamkeit der musikalisch-kulinarischen Symbiose geschickt nutzte, auch noch als Sponsor guter Instrumente in Erscheinung! In einer solchen Umgebung war das musikalische Arbeiten wohl geradezu ein Vergnügen, Bach führte dort weltliche Kompositionen aus seiner Köthener Zeit wie auch neue, ebenfalls nicht geistliche Werke auf. Seine auch heute noch sehr bekannte „Kaffeekantate“ BWV 211 wurde natürlich ebenfalls für diesen Rahmen geschrieben.

Zu den weltlichen Werken, die Bach für das Leipziger Collegium musicum schrieb, gehört auch die Kantate Laßt uns sorgen, laßt uns wachen BWV 213, die auch die Titel „Die Wahl des Herkules“ oder „Herkules am Scheidewege“ trägt. Bach schrieb sie als Widmungswerk für den 11. Geburtstag des Kronprinzen Friedrich Christian von Sachsen und brachte sie am 5. September 1733 im Zimmermannschen Kaffeehaus zur Uraufführung. Als Librettist fungierte Picander, der die Textvorlagen zu zahlreichen Bach-Vertonungen schuf. Die Stoffwahl mag besonders erscheinen, da von Bach so wenig explizit weltlich Musikdramatisches überliefert ist; für einen Komponisten seiner Zeit jedoch ist der Rückgriff auf die griechische Mythologie generell keine Seltenheit: Kurz sei zum Beispiel auf Bachs großen Zeitgenossen Händel verwiesen, der neben vielen Opern, deren Handlung in der klassischen Antike und Mythologie angesiedelt sind, auch Oratorien wie Semele schuf oder, wenngleich auch 18 Jahre nach Bach, ebenfalls eine „Wahl des Herkules“ vertonte (die einzige thematische Überschneidung im Werk Bachs und Händels präsentiert sich damit in der Beschäftigung mit diesem Sagenhelden). Bachs Herkules wird vom Komponisten selbst als „Dramma per musica“ bezeichnet, ist aus einzelnen musikalischen Abschnitten aufgebaut, wobei zwischen Rezitativen, Arien, Chören abgewechselt wird. Das Stück entspricht also oberflächlich betrachtet den geistlichen Kantaten des Thomaskantors strukturell, ist mit etwa 45 Minuten Dauer aber wesentlich weitschweifiger. Thema ist eine allegorische „Versuchung“ des Helden Herkules (Altus), der sich nach dem Willen der beobachtenden Götter zwischen den Verlockungen der Wollust (Sopran) und den Mahnungen der Tugend (Tenor) entscheiden muss und – wie es sich gehört – natürlich nicht den Entschluss zur Zügellosigkeit fasst, sondern den schwereren, aber ruhmreichen Weg der Tugend beschreitet. (Ob der Stoff Bach nach seinen bisherigen Leipziger Erfahrungen persönlich angesprochen hat, lässt sich nur vermuten, aber vielleicht mag ihm seine Verteidigung einer hochstehenden musikalischen Kultur unter den Leipziger Arbeitsbedingungen, die sich zum Glück Anfang der 30er Jahre mit der Einstellung eines neuen Rektors an der Thomasschule zumindest teilweise besserten, durchaus zuweilen als wahre Herkulesarbeit vorgekommen sein.)

Zum Ende der Kantate vergleichen Merkur (Bass) und Chor dann wörtlich „Sachsens Kurprinz Friedrichs Jugend“ mit der des jungen Herkules und schließen mit dem Wunsch „Blühe, holder Friederich“. Ob der jugendliche Widmungsträger, der von früher Kindheit an schwer gehbehindert war, sich den Vergleich mit dem antiken Helden zu Herzen nahm, ist nicht bekannt; tatsächlich aber war er ein musisch begabter und aufgeklärter Mensch von einiger Willensstärke, der seinen Thronanspruch zugunsten der jüngeren, gesunden Brüder sogar auf Bitten der eigenen Mutter hin nicht aufgab und in der sehr kurzen Regentszeit, die ihm erst 1763, am Ende seines Lebens, vergönnt war, immerhin einige Reformimpulse durchsetzte.

Ob Bachs als Komponist erfolgreichster Sohn Carl Philipp Emanuel, dessen Hamburger Sinfonie in C-Dur als Mittelstück des Konzerts erklingt, bei der Uraufführung von „Herkules am Scheidewege“ mitwirkte, lässt sich ebenfalls nicht mehr feststellen, es ist aber wahrscheinlich, denn dass er ebenso wie sein Bruder Wilhelm Friedemann ab dem Beginn der Studentenzeit (Studienbeginn 1729 bzw. 1731), im Collegium musicum mitspielte, ist verbürgt. Carl Philipp Emanuel ist auch als einer der Schreiber in beiden heute erhaltenen Manuskripten der Kantate identifiziert worden.

Den Abend eröffnet Bachs Kantate Ich geh und suche mit Verlangen BWV 49. Das 1726 für Leipzig komponierte Werk hat – in der barocktypischen Umdeutung von Elementen der alttestamentarischen Hohelied-Dichtung – den Dialog Jesu (Bass) mit der suchenden Seele (Sopran), zum Inhalt und besticht durch seinen teilweise konzertanten Charakter, der nicht zuletzt daher rührt, dass Bach die einleitende Sinfonia mit der Betonung der Orgel als virtuosem Soloinstrument wohl einem Instrumentalkonzert aus seiner Köthener Zeit entlehnte. Umgekehrt verwertete der Komponist, ganz der Tradition der Parodie (also der im Barock üblichen Nutzung früherer Stücke in aktuellen Kompositionen) verpflichtet, fast die komplette Herkules-Kantate wiederum im 1734-1735 komponierten Weihnachtsoratorium, das sich beim heutigen Publikum natürlich viel größerer Beliebtheit erfreut als das inhaltlich doch sehr spezifische Widmungswerk für den Sachsenprinzen. So mancher Bachkundige im Publikum wird etwa zum Beispiel bei der Arie „Schlafe mein Liebster“ aus „Herkules“ den Vergleich zum so vertrauten (und gleichnamigen) Pendant aus dem Weihnachtsoratorium ziehen können – und vielleicht auch staunen, mit welch einfachen textlichen Mitteln aus dem weltlichen Werk ein geistliches werden kann, wie schnell eine inhaltliche Ver-Rückung vollzogen ist, während die pure Schönheit der Musik selbst auf ihrer eigenen Ebene überdauert.